Reporter aus dem Zeichensaal
Von Martin Haidinger
Zwei Tage lang wurde eine Klasse der Wiener "Popper–Schule" zur Radioredaktion. Ein ORF–Redakteur stand ihnen dabei beratend zur Seite.
Die Bilder Picasso bescherten der Wiener Albertina einen wahren Besucherrekord. Dementsprechend hat die Moderatorin gleich zu Beginn der Sendung beeindruckende Zahlen über die Ausstellung zu vermelden: Mehr als 5700 Besucher an einem einzigen Dezember–Sonntag; 300.000 werden bis zum Ende der Schau erwartet! Sie alle wollen die 200 Werke aus der Spätphase Picassos sehen. Die Moderatorin übergibt an die Außenstelle der Albertina. Dort hat sich eine Reporterin postiert und zieht ein Resümee der Publikumsbefragung, die sie an der Rampe des Ausstellungshauses durchgeführt hat. Schließlich sind die Leute, die gerade drin waren, so etwas wie Primär–Experten. Fazit: Den meisten hat‘s gefallen, einigen bleibt der Meister aus Malaga nach wie vor ein Rätsel.
Packend schildert die Reporterin den Zwiespalt, den einige der an Eros und Tod orientierten Bilder des alternden Künstlers auch heute noch bei manchen Menschen auslösen – ausreichend Anlass, zu fragen, wer Pablo Picasso in seiner Zeit gewesen sei. Ein Redakteur packt das Wesentliche in eine Geschichte, für die er einen Wiener Kunsthistoriker befragt hat. Schließlich wird in einem Abschlussstück Picassos Verhältnis zu den Frauen nachgegangen. Picasso, jetzt kennen wir Dich!
Die Begabten
Das eben Beschriebene war kein gelungenes "Kulturjournal" im ORF–Radio, sondern Teil einer Schulstunde im Zeichensaal des Wiedner Gymnasiums! Zwei Halbtage lang verwandelte sich die Klasse 6d der "Sir–Karl–Popper–Schule" in eine Radioredaktion.
Seit zehn Jahren bemüht sich die Popper–Schule als Oberstufen–Schulversuch am Wiedner Gymnasium, hochbegabten Schülerinnen und Schülern individuelle Entfaltung bis zur Matura zu ermöglichen – ein Kraftakt für Lehrer, Schüler und Eltern. Das Ergebnis ist jedenfalls erstaunlich. Dass es sich hier nicht um ein teures Gewächshaus für zwangshochgezüchtete Elite–Pflänzchen aus reichen Elternhäusern handelt, wurde mir schon anlässlich einer Radioreportage klar, die ich einige Monate zuvor für die Ö1–Sendereihe "Dimensionen" gestaltete. Da ging es um das neue Schulfach "Ästhetische Bildung", und ich führte mit Popper–Schülern aus der 7. und 8. Klasse Gespräche, wie man sie sonst nur Akademikern zutraut: gebildet, analytisch, dabei unverkrampft – einfach g‘scheit!
So sollten eigentlich alle unsere österreichischen Journalisten sein, dachte ich und ersann gemeinsam mit der Popper–Kunsterzieherin Sylvia Srabotnik ein spontanes Zweitagesprojekt, eine Trockenübung aus Recherche und Gestaltung von aktuellen Radiobeträgen à la Ö1–Mittagsjournal. Einfach so, aus dem Stand, sollten die Schüler der 6d mit den Erfordernissen des Tagesjournalismus im elektronischen Medium konfrontiert werden: von der Aktualität diktierte Themen aus allen Bereichen unter Zeitdruck zu recherchieren und in Beiträge zu verwandeln. Vielleicht eine mögliche Versuchsstation für künftige Journalistinnen und Journalisten? "Aber wenn die schon so g‘scheit sind, Deine Schüler" , sagte ich zu Sylvia Srabotnik, "dann schenk‘ ich denen auch nichts! Die bekommen das gleiche anstrengende Programm verpasst wie meine Studenten am medienkundlichen Lehrgang der Uni Graz!"
Srabotnik lächelte mir bloß milde zu. Bald sollte ich wissen, warum. Sie wusste, ich würde auf junge Meister treffen.
Anfangs denke ich, mich verlaufen zu haben. Bin ich irrtümlich in der Unterstufe gelandet? Nein, informiert mich die Kunsterzieherin, das auffallend junge Mädchen, dem ich zufällig als erstes begegnet bin, hat zwei Klassen übersprungen und ist erst knapp über 14 Jahre alt. Aber das Gros ist schon um die 16. Flüchtig gesehen hab‘ ich die Klasse ja bereits, als sie wenige Wochen zuvor eine reguläre Führung durch das ORF–Funkhaus in der Argentinierstraße bekommen haben. "Die technischen Möglichkeiten eines Erlebnis–Studios wie im Funkhaus haben wir hier im Zeichensaal leider nicht", entschuldige ich mich bei der 6d, "wir werden uns damit begnügen müssen, Beiträge zu simulieren."
Am ersten Tag lernen wir zunächst einmal wichtige Grundlagen des Journalismus: Wie erkenne ich das Wesentliche eines selbst geführten Gesprächs (vulgo Interview), wie destilliere ich aus einer Fülle von vorliegenden Fakten eine Meldung. . . Sagte ich "lernen wir"? Was für die meisten Studenten eine mühsame Übung ist, erscheint den Popper–Schülern offenbar nicht sehr aufregend. Meine mitgebrachten langen Agenturmeldungen werden in der 6d mit der linken Hand in Zehnzeiler verwandelt, die Interviewübung ( "Ich interviewe meinen Sitznachbarn" ) mehr oder weniger als Kinderspiel erachtet. Ja, freilich sind manche unzulängliche Formulierungen drunter, fehlt manche Erfahrung, aber oho! "Weitermachen, weitermachen!", lese ich in den Augen der Interessierten – und interessiert sind alle 24, ohne Ausnahme. "Wann bearbeiten wir endlich richtige Themen?" Ich komme ins Grübeln. Fühlt sich so Unterforderung an?
Junge Meister
Ich erkläre die Klasse endgültig zur Redaktion des Aktuellen Dienstes, berufe eine Frühsitzung ein, und gebe einen etwas autoritären Chefredakteur. Ich teile kleine Dossiers zu Themen wie "Bilanz des Mozartjahres", "Gesamtschule versus Begabtenförderung", "Wie aktuell ist das Gesetz über NS–Wiederbetätigung?", "Der wirtschaftliche Nutzen der Studiengebühren" oder "Wie verkraften die Universitäten die permanente Uni–Reform?" aus. Der Inhalt der Mäppchen besteht aus Agenturmeldungen, Infos aus dem Internet und den Telefonnummern von Interviewpartnern, Politikern, Künstlern, Wissenschaftern.
Pro Dossier und Thema steht auf dem Speisezettel jeweils ein real existierender Experte, den ich weichgeklopft habe, an diesem speziellen Tag den Schülern Interviews am Telefon zu geben. Bis 12 Uhr sollen Texte dreiminütiger Radiobeiträge vorliegen, mitgeschriebene Interview–ausschnitte inklusive. Genau an dieser Stelle pflegen "normale" Studenten herumzutüfteln, wie sie mit ihrem von mir großzügigerweise gestellten Interviewpartner am besten reden werden; nicht so bei "Poppers"!
"Was, warum nur der Abgeordnete einer Partei?" , fragt mich einer, der einen Politiker zur Gesamtschule befragen soll. "Nun, weil er sich bereitgefunden hat, und das war schwierig genug, da heute Plenartag im Nationalrat ist und die Abgeordneten nur schwer zu erreichen sind . . ." – "Aber da gehören doch auch die Meinungen der anderen Fraktionen dazu!" – "Ja, freilich, aber die kann man in diesem Fall ausnahmsweise auch aus den Unterlagen heraus . . ." – "Frage: Dürfen wir auch andere Politiker dazu anrufen?" – "Klar, alle Hilfsmittel sind erlaubt . . ."
Der Startschuss ist gefallen. Der Herr Chefredakteur kommt sich plötzlich ein wenig einsam vor, denn alles schwärmt aus und verteilt sich auf den Gängen, in den Ecken des Zeichensaals oder verlässt das Gebäude. Die meisten bilden Teams, einige bleiben alleine. Wie geschmiert arbeiten sie zu sammen, die aus der 6d. Mich braucht hier im Grund keiner mehr. "Und wann kommt der Herr Abgeordnete zurück?", belausche ich ein Telefonat, gleich darauf ein anderes: "Sie als Pressesprecher können mir doch zumindest sagen, was die Frau Minister dazu denkt. Ich brauche dringend eine Stellungnahme bis kurz vor 12 . . ." Mir schwindelt ein wenig. "Entschuldigen Sie", unterbricht eine Schülerin meine Gedanken. Na also, endlich eine, die sich nicht auskennt, und eine Frage hat! "Haben Sie ein Aufnahmegerät, das Sie mir borgen können? Ich möchte vor der Albertina Interviews zur Picasso–Ausstellung führen."
Zwei Stunden später höre ich verdutzt, wie sie in der Klasse Sprachaufnahmen machen. Irgendwoher haben sie sich gratis einschlägige Software heruntergeladen und sprechen via Headset Beiträge in ein Notebook! Es ist ein ähnliches Programm, wie wir es im ORF verwenden. Ich habe, als es eingeführt wurde, monatelang gebraucht, bis ich es ordentlich beherrschte.
Zwischendurch plaudere ich mit einem Schüler über das Buch "Die Realität der Massenmedien" von Niklas Luhmann. Es ist ein soziologisches Fachwerk, das ein Thema meiner Diplomprüfung gewesen ist, die mich zum Magister phil. gemacht hat. Der 16–Jährige ist nichtdeutscher Muttersprache. Er hat den Sinn des Buches genau erfasst. "Jetzt sag‘ mir, wie hast du nur dieses schwierige Soziologesisch verstehen können?!" "Die ersten 20 Seiten auswendig gelernt, dann ging‘s." Aha. Gut. Keine weiteren Fragen mehr. Ich hänge zugegebenermaßen schon ein wenig in den Seilen. Die haben mich positiv überdribbelt und jetzt lesen sie – teilweise mit radiotauglichen Vortragsstimmen – ihre Beiträge vor oder spielen sie aus dem Notebook zu.
Ideen für die Zukunft
Die Klassentüre öffnet sich, der Direktor tritt ein. Er hat einen Gast dabei, den Direktor einer deutschen Partnerschule. Meine Redaktion "sendet" gerade den Beitrag über die Studiengebühren. Der Deutsche ist beeindruckt; und der Österreicher auch, hab‘ ich das Gefühl.
Schade nur, dass das alles nicht wirklich auf Sendung gehen wird. Ideen für die Zukunft keimen auf. Wer so beände mit dem Medium Radio, mit journalistischer Arbeit umgeht, sollte die Möglichkeit bekommen, sein Können auch umzusetzen. Aber vielleicht ist jungen Menschen von 14, 15, 16 Jahren, die sich mit derartigen Inhalten mühelos spielen, mit 18 das simple Mediengeschäft längst zu fad. Spielen sie sich dann lieber mit Kernphysik und High–Tech herum? Dann wache ich aus meinen Grübeleien auf und sehe ganz normale junge Leute, die sich lachend ins Wochenende verabschieden. Ein eigen Ding, diese Hochbegabung.
"Also ich wäre sehr an einem Praktikum interessiert", sagt ein Mädchen aus der 6d. "Ich bin draufgekommen, dass das genau der Beruf ist, den ich später einmal ausüben will." Wer hätte das gedacht? Möge die Übung gelingen!