"Wo die Schüler schlauer sind als die Lehrer"
In wenigen Wochen ist es wieder so weit - dann beginnt an der Sir-Karl-Popper-Schule in Wien das neue Schuljahr, strebt ein neuer Jahrgang nach der Matura an einer Schule, die anders ist als andere Schulen. Denn an die Popper-Schule - wenig spektakulär an der Drogenmeile im vierten Wiener Gemeindebezirk gelegen - kommen nur die wenigen Schüler eines Jahrgangs, die eine Hochbegabung zeigen. Diese ist definiert als ein individuelles Fähigkeitspotential für außergewöhnliche Leistungen in einem oder mehreren Bereichen. Normalerweise gehört dazu ein Intelligenzquotient von mindestens 130.
Eine, die das Abitur an der Hochbegabtenschmiede bereits geschafft hat, ist Alexandra Tampermeier, eine junge Frau mit lebendigen braunen Augen. Sie hat den Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" auf Spanisch gelesen und mit einer Interpretation vor den Pädagogen brilliert. Gerne würde sie Dolmetscherin werden. Doch ist sie sich noch nicht sicher, weil das Fach sehr überlaufen ist. Froh ist sie, hier ausgebildet worden zu sein. Die Toleranzgrenze unter den Popper-Schülern sei hoch. "Man wird akzeptiert mit seinen Spleens." Denn Popper-Schüler reden über andere Dinge als der Durchschnitt. Statt um Mode und Schauspieler geht es hier um Quantenphysik.
Vorbilder in Braunschweig und New York
Seit zehn Jahren gibt es die Sir-Karl-Popper-Schule, Vorbilder waren die Jugenddorf-Christophorus-Schule in Braunschweig und die Dalton School in New York. Heute gibt es einen Erfahrungsaustausch mit dem Deutschhaus-Gymnasium in Würzburg. Der Intelligenzquotient interessiere ihn nur am Rande, betont Direktor Günter Schmid. Letztlich gehe es um Talente. Im sozialdemokratisch geprägten österreich, wo der Begriff Elite ähnlich wie in Deutschland auf Widerstand stößt, hatte es die Popper-Schule anfangs nicht leicht. Im ersten Jahr kämpfte sie um ihr überleben, inzwischen aber ist sie gefragt: Auf 48 Plätze kommen 110 Bewerbungen, bisher nur für die Oberstufe. "Jetzt wäre es gesellschaftspolitisch möglich, das Modell auf die Unterstufe auszudehnen", vermutet Schmid. Ob Begabungen allerdings schon in der Pubertät separiert werden sollten wie am Deutschhaus-Gymnasium, da ist er sich nicht sicher.
Leonhard Widrich etwa besuchte zunächst die Fußballakademie in Sankt Pölten. Dann aber stellte er fest, dass er dort nicht an der richtigen Schule war. Er wechselte an die Popper-Schule, wo er jetzt das Abitur bestanden hat, und genoss es, keinen Frontalunterricht mehr zu haben - und nur 70 Prozent Anwesenheitspflicht. Das Ganztagsprinzip habe die Stimmung entscheidend verbessert. "In zwölf Stunden kann man keine schlechte Atmosphäre aufbauen", sagt er.
Widrich spricht vier Sprachen und interessiert sich für Philosophie, später will er an der London School of Economics studieren. Mit 35 Jahren aber will er dann Arzt sein - denn schon jetzt ist ihm klar, dass er nicht immer das Gleiche tun will. Sich abgehoben zu fühlen, das ist für ihn, der über einen Intelligenzquotienten von 135 verfügt, kein Thema. "Es besteht kein Grund dafür, sich überlegen zu fühlen." Hochbegabung werde oft hochstilisiert, findet er. ähnlich sieht es Alexandra Tampermeier: Eliten müssten eine Vorbildfunktion haben und dürften nicht von der Realität abheben, fordert sie.
Das Credo: Individuelle Förderung
Diese Haltung zieht sich quer durch die Schule. Direktor Schmid und seine Lehrer haben daran ihren Anteil. Ihr Credo ist die individuelle Förderung. Gerne verweist Schmid auf die beiden Seiten der Gaußschen Normalverteilungs-Kurve. An den Rändern habe man es schwerer - weil man nicht zur Norm passe. "Hochbegabte werden zu Schulversagern, wenn sie nicht ihren Interessen entsprechend gefordert und gefördert werden. In den vergangenen zehn Jahren haben wir eine erhebliche Anzahl von Schülern davor bewahrt, mindestens eine ganze Schulklasse", erklärt der promovierte Altphilologe und Anglist. "Vor dem Versagen für das Leben gerettet", fügt er hinzu. Eine der Voraussetzungen dafür sind besonders sorgfältig ausgewählte Lehrer: Sie müssen darüberstehen, wenn Schüler intelligenter sind als sie selbst.
"Wir haben die Juwelen unter den Junglehrern", sagt Schmid. Im Unterricht sehe er Erzieher, die mit Feuer und Eifer bei der Sache seien. Zur pädagogischen Grundhaltung gehören laut Schmid uneingeschränkte Offenheit und ein partnerschaftliches Verhältnis zu den Schülern. "Ein klassischer Lehrer ist vergleichbar mit einem Bergführer, der Anweisungen gibt", sagt Schmid. "Der Popper-Lehrer hängt mit am Seil." Statt auf die Schwächen, wie es im deutschsprachigen Raum üblich sei, konzentriere er sich auf die Stärken der Schüler. Es gehe darum, diese zu Autoren ihres eigenen Lebens zu machen. "Dazu muss ein Lehrer über seinen eigenen Schatten springen - denn das widerspricht dem Prinzip, möglichst viele Schüler mit vielen guten Noten hervorzubringen."
Normierte Eingangstests
Ausgewählt werden die Schüler nach einem aufwendigen Verfahren. Normierte Tests, durchgeführt von der auf Begabtenberatung spezialisierten Psychologin Sabine Rohrmann aus Braunschweig, sollen die verschiedenen Facetten der Intelligenz ausleuchten. Ergänzt werden sie von Gesprächen über Motivation und Leistungsbereitschaft; gesucht werden Jugendliche, die eine hohe Selbständigkeit beim Lernen einfordern, denen Auswendiglernen nicht genügt. Seine Schule soll nicht nur Wohlhabenden offenstehen, sagt Günter Schmid. Allerdings komme der Großteil der Schüler aus bildungsnahen und damit einkommensstärkeren Schichten. Ob sich in ihren Lebensläufen gemeinsame Muster abzeichnen, ob ihre Karrieren anders verlaufen als die von durchschnittlich Begabten, ob sie mehr Ehrgeiz und Fleiß zeigen, ist noch nicht zu erkennen.
Die meisten studieren querbeet, viele engagieren sich sozial. Darüber freuen sich die Gründer der Schule. "Denn ganz wichtig ist es, den Schülern zu vermitteln, dass hohe Begabung auch immer hohe soziale Verantwortung bedeutet", sagt einer von ihnen. Andreas Salcher, der sich in österreich als konservativer Querdenker und Fachmann für Bildungsfragen einen Namen gemacht hat, wollte aber auch, dass jene Elemente zur Begabungsförderung, die sich an der Popper-Schule bewähren, von den Regelschulen übernommen werden. Das hat schlecht funktioniert. "Die Bereitschaft, von anderen zu lernen und Innovationen zu übernehmen, ist im leider von jedem Wettbewerb abgeschlossenen öffentlichen Schulsystem sehr gering ausgeprägt", kritisiert der Bildungsfachmann.
Am Boden bleiben ist gefragt
Die Popper-Schule, die heute zu den besten Begabtenschulen in Europa gehört, ist zwar zum Vorbild für viele andere geworden; mehrmals in der Woche besuchen sie Delegationen - die meisten aber kommen aus dem Ausland. Auch österreich und Deutschland seien gut beraten, sagt Salcher, die individuelle Förderung von Talenten auf möglichst vielen, vielleicht noch gar nicht als bedeutend erkannten Gebieten zur nationalen Priorität zu machen. Er verweist dazu auch auf ein asiatisches Modell, in dem das Erziehungssystem und die Lehrer einen deutlich höheren Stellenwert hätten: "Singapur, das keinerlei natürliche Rohstoffe oder Anbauflächen besitzt, hat erkannt, was der wichtigste Rohstoff einer Nation ist: das geistige Potential seiner Kinder."
Stephan Bauer verkörpert dieses Potential. Der Wiener, der vor zwei Jahren Abitur gemacht hat und heute an der TU Wien Informatik studiert, vertritt den Absolventenverein der Sir-Karl-Popper-Schule. "Ich hatte das Glück, dass ich eine besondere Förderung hatte", beschreibt er im Rückblick seine Zeit an der Popper-Schule. "Dafür bin ich dankbar." Was er nach dem Studium machen wird, weiß er noch nicht. Vielleicht wird er Wissenschaftler. Vor allem aber will er der Gesellschaft etwas zurückgeben. Wie das gehen soll? Stephan Bauers Antwort ist einfach: "Am Boden bleiben ist gefragt."