Initiativen für eine begabungsfreundliche Lernkultur

Dein Geist hat mich begabet ...

Matthäus-Passion, Johann Sebastian Bach

1. Die Kunst des "Begabens" und die Anregungen des Pädagogen(!) Sir Karl Popper

Eine "begabungsfreundliche Lernkultur" wird dort Wirklichkeit, wo Personen über das Talent verfügen, anderen die Sicherheit und das Selbstvertrauen dafür zu geben, dass sie zu Leistungen befähigt sind.

Die "Theorie der multiplen Intelligenzen" von Howard Gardner, einem der prominentesten Begabungsforscher der Gegenwart, lässt die Intelligenz des "Begabens" - im Zusammenhang mit den bei ihm genannten "intrapersonalen und interpersonalen Intelligenzen" als d a s pädagogische Talent werten.

"Begaben" heißt die Kunst, mit Menschen so umzugehen, dass sie ihre besten Fähigkeiten - selbst - entdecken und verwirklichen können.

"Dein Geist hat mich begabet ..."

lautet die Textzeile eines Gedichtes von von Paul Gerhard bzw. eines Chorals aus der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs.

Howard Gardners Studien über jene entscheidenden Begegnungen, die im Leben eines genialen Geistes als kreative Auslöser wirkten, charakterisieren diesen begabenden Moment in den Biographien von sieben "Schöpfern der Moderne" (Gardner 1996).

Der Hauptschullehrer Karl Raimund Popper - er unterrichtete in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts an einer Wiener Hauptschule - war ein "begabender" Geist; er vermochte Interesse und Begeisterung zu wecken. Aussagen seiner Schüler bestätigen das.

Der Philosoph Sir Karl Popper propagierte als international anerkannter Wissenschafter eine anregende - und Begabungen erweckende - Auffassung von Theorie:

In dem Buch "Ausgangspunkte", in dem er seine intellektuelle Entwicklung darstellt, schreibt er, dass ihn als Jugendlichen das Beispiel Einsteins, eine bisher festgehaltene Erkenntnis aufzugeben, fall sie gewissen Überprüfungen nicht standhielte, fasziniert und zu der Einstellung geführt habe, einzig in der kritischen Überprüfung von Erkenntnissen, in "Überprüfungen, die die Theorie widerlegen konnten", "die wahre wissenschaftliche Haltung" zu sehen (Popper 1994, S. 48).

In seinem Werk "Objektive Erkenntnis" richtet Popper den folgenden aufmunternden Ermutigungsappell nicht nur an (junge und alte) Wissenschafter, sondern an alle, die sich über "Gott und die Welt" (und die Menschen!) Gedanken machen:

"Versuche immer wieder, die Theorien, an die du glaubst, zu formulieren und zu kritisieren. Und versuche, Alternativtheorien aufzustellen - selbst zu den Theorien, die dir als völlig zwingend erscheinen; nur so wirst du die Theorien verstehen, an die du glaubst.

Betrachte deine Experimente (und Erfahrungen) immer als Prüfungen einer Theorie - als Versuche, Fehler in ihr zu finden.

Die Methode, etwas über die Welt in Erfahrung zu bringen, könnte man evokativ statt instruktiv nennen. Wir lernen etwas über unsere Umwelt nicht dadurch, dass wir uns von ihr instrumentieren lassen, sondern indem wir von ihr herausgefordert werden." (Popper 1984, S. 278, 279).

Die Schule, die den Geist Sir Karl Poppers als leitende Idee ihrer Konzeption von Begabtenförderung propagiert, initiiert eine neue Bildungsentwicklung in Österreich.

In den Unternehmungen zur Begabtenförderung und zur Entwicklung einer begabungsfreundlichen Lernkultur (der Gesellschaft insgesamt!) stehen wir erst am Beginn. Aber - siehe Hermann Hesse - "jedem Anfang wohnt ein Zauber inne"!

Die erste Matura an der Sir-Karl-Popper-Schule (exakt 100 Jahre nach dem Geburtsdatum Poppers) ist ein besonderes Ereignis. Es ist ein Anlass, Fragen der LehrerInnenbildung, der Strukturentwicklung und der Vermittlung von Methodenkompetenz zu überlegen.

2. Begabtenförderung bedeutet (auch): Organisationsentwicklung für das Schulsystem

Das Ansinnen von Begabtenförderung steht im Widerspruch zur Lernorganisation der Schule, wie wir sie aus den Denkformen des 19. Jahrhunderts übernommen und ohne wesentliche Veränderung bis heute fortgeführt haben.

Im 19. Jahrhundert wurde das erst zu gründende allgemeine Schulwesen nach plausibel erscheinenden flächendeckenden Verwaltungsprinzipien konzipiert, in die der Aufbruch zur "Bildung des ganzen Volkes" eingefügt und prokrustesartig angepasst wurde:

Einrichtung von Jahrgangsklassen, für deren Zugang nicht ein Kenntnis- und Entwicklungsstand des Kindes und Jugendlichen sondern sein Lebensalter geltend gemacht wurde, Etablierung von Fächereinteilungen, deren Inhalte in Portionen nach "Stunden"plänen vermittelt werden sollten.

Unter diesen durch die Etablierung des Schulwesens unter staatlicher Leitung nach 1848 sich verfestigenden Strukturen hatte die um fünfzig Jahre zeitlich verspätete e r s t e pädagogische Bewegung um 1900 - die wir allgemein als Reformpädagogische Bewegung bezeichnen - nur jene Art von leiser Stimme, für die man im Sinn des Prinzips Hoffnung Sigmund Freud zitieren kann: "Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht eher als bis sie sich durchgesetzt hat."

Die verwaltungstechnisch so schnell wie einfach verordnete Zuteilung von Wissenserwerbs-Stufungen nach dem Lebensalter verfestigte sich innerhalb kurzer Zeit in Umkehrung ihres ursprünglichen Bildungssinnes zu einer normativen Zuerkennung - "So und nicht anders geht es und daher ist es auch gut und richtig!" - und in der Folge zu einer pseudo-anthropologischen Konstante, aus der ein kategorischer Imperativ geriet: Lerne so, dass die Maxime deines Strebens in der Schule dem entspricht, was dort für dein Alter als passend erklärt wird und erachte alles andere als falsch und schlecht.

Unter solchen ideologischen (aus dem Sein zum Sollen umstilisierten) Bewusstseinslagen entstanden irrwitzige Glaubenssätze, die ein bis in die Gegenwart anscheinend unausrottbares Dasein fristen: "Gleichheit für alle" bedeute "Gerechtigkeit für jeden" (wiewohl schon der Altvater der Pädagogik, Johann Friedrich Herbart, darauf hingewiesen hatte, dass "die Verschiedenheit der Köpfe" eine Grundfrage allen Unterrichts sein müsse, die, wenn man sie nicht beachte, "zur Despotie führen" müsse) und Heranwachsende gescheiter sein und mehr wissen lassen "als es dem Alter entspricht" (!??) bedeute "Verlust der Kindheit".

Zu diesem Vorurteil zitieren mitunter eilfertig beflissene Halbgebildete das, was sie bei Rousseau schon immer missverstanden haben, wenn sie vom "Wachsen lassen" des Verstandes und der Vernunft in der Art "wie die Haare wachsen und die Zähne kommen" gelesen haben; und im Übrigen kann man zur Ablehnung derer, die im Bildungsweg rascher vorankommen, immer noch mit den tiefgestaffelten Gefühle der Verunsicherung und Konkurrenzangst rechnen.

Die Beschreibung solcher Bewusstseinslagen gilt nun keineswegs für d i e Lehrer allgemein, wohl aber für eine nicht unerhebliche Zahl jener Personen, die im Bildungsbereich tätig sind.

Wenn dem nicht so wäre, würden wir bei Überlegungen zum Überspringen von Schulstufen nicht so widerspruchsvollen Einstellungen begegnen.

Wenn eine Erklärung dafür besteht, dann diese, dass bei manchen der Anspruch von Menschenbildung in der mentalen Unterordnung unter die Sozialisationsbedingungen der schulischen Lernorganisation geraten und dort verkommen ist.

Es ist notwendig, den Blick auf jene anderen Lehrer zu richten, die aufgrund ihres zu Bildungsverständnisses und ihres Selbstbewusstseins fähig sind, Schule anders verstehen, die es für selbstverständlich halten, sich über vorfindbare Ist- Zustände ein Urteil zu bilden und über Organisationsbedingungen zu entscheiden.

Es sind die kreativen Lehrer, die Schule so verändern wollen, dass Begabung als Menschenrecht wahrgenommen werden kann; das sind auch jene Lehrer, die sich alleingelassen und unerkannt fühlen, wenn die begabungshemmenden Faktoren der Realverfassung von Schule nicht Thema der wissenschaftlichen Forschung werden.

In Konsequenz solcher Überlegungen sind zwei Richtlinien für forschende Unternehmungen zu nennen:

Die Organisation und die Form der Ausbildung, die in den lehrerbildenden Institutionen besteht, ist selbst zum Gegenstand der Begabungsforschung zu erheben, denn bereits dort - an Pädagogischen Akademien und Hochschulen und Universitäten - gerinnen die differenzierenden Ansprüche unter dem anscheinend allein-lehrer-seligmachenden Ziel der Vermittlung kognitiver Qualifikationen (dessen, was als "Berufswissen" benannt wird) zur Monokultur von Lehren und Lernen als rezeptiver Wissensaufnahme zum Zweck der Prüfung (kurzfristiger!) Gedächtnisleistungen.

Lehrer - die "im pädagogischen Geschäft" tätigen Personen - sind nicht nur allgemein besser als ihr Ruf; es gibt unter ihnen außerordentlich Begabte - sowohl in fachlicher als auch in pädagogischer Hinsicht - in dem sicheren Anteil, der die Entwicklung anderer Schulwelten (vgl. Schulklima- Untersuchungen: Oswald 1989, Eder 1995 u.a.) gewährleistet.

Von diesen Lehrern werden außergewöhnliche Leistungen erbracht (vgl. Oswald, Hanisch, Hager 1999: Olympiaden und internationale Wettbewerbe) und intelligente pädagogische Initiativen gesetzt, die auch von einem erstaunlichen Mut zeugen, schulische Strukturbedingungen zu verändern, selbst im leisen Widerspruch zu ministeriellen Gesetzes-Interpretationen (vgl. Oswald, Überspringen von Schulstufen).

Gleichwohl befinden sich diese Lehrer in der Minderheit und sind daher in ihrer Situation im Lehrerkollegium ähnlich einzuschätzen wie begabte Kinder unter ihren Altersgleichen mit anderen Interessen.

Eine Anregung der Phantasie ist allerdings jetzt schon möglich; eine Anregung zur Vorstellung darüber, dass "Schule" auch anders denkbar ist: Es ist erwiesen - aus der Erfahrung der ECHA-Seminare ist es hinlänglich bekannt -, dass die Erkundung von Modellen der Begabtenförderung an Schulen den "Mut zur Begabung" (von dem Erika Landau im individuell gemeinten Interesse am Kind spricht, welcher Aufruf aber wohl auch für Lehrer Geltung hat) erwecken kann.

Wir stehen in der Entwicklung der Institution Schule und der lehrerbildenden Einrichtungen zwar noch in den Anfängen; Bewegung wird durch die "Ermutigung zur Begabung" bei Lehrern entstehen.

3. Initiativen zu einer begabenden Lehrerbildung

Die Nennung der folgenden Qualifikationen für eine Lehrerbildung zur Begabtenförderung ist aus der bisherigen Erfahrung in der Arbeit mit Studierenden - also in der Situation der Ausbildung künftiger Lehrer - und in der seminaristischen Begegnung mit Lehrerinnen und Lehrern in Fortbildungsveranstaltungen (zu denen auch die ECHA-Seminare zählen) entstanden.

Zwei größere Forschungsarbeiten - erstens über "Individuelle Begabtenförderung in der Teilnahme österreichischer Jugendlicher an internationalen Wettbewerben und 'Olympiaden'" im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur, zweitens zum "Überspringen von Schulstufen an österreichischen Schulen" im Auftrag des Österreichischen Zentrums für Begabtenförderung und Begabungsforschung - haben besondere Gegebenheiten (sowohl beglückende Erfahrungen als auch Leidenszustände) erkennen lassen.

Die folgenden fünf Dimensionen sind in diesem Interesse bewusst in der sprachlichen Form zum Ausdruck gebracht, die Qualifikationen von begabenden Lehrern benennen soll:

  • Selbstbewusstsein in der Begegnung mit Wissenschaft allgemein, auch und besonders mit den für das Berufsverständnis grundlegenden Sozialwissschaften
  • Organisationskompetenz in der Begegnung mit Schule und mit außerschulischer Bildung
  • Erfahrung der eigenen Person in kontrollierter Selbstreflexion (durch Aktionsforschung) und Befähigung zu dem, was bei Howard Gardner als "intrapersonale Intelligenz" bezeichnet wird
  • Selbst-Erfahrung im Unterrichtsmanagement in Kooperation mit anderen Personen und Institutionen
  • Erwerb von bildungspolitischer Profilierung durch die Erstellung und Präsentation von Arbeiten zu Bildungsfragen auf wissenschaftlicher Grundlage

(1) Selbstbewusstsein in der Begegnung mit Wissenschaft

Lehrer sollen sich als Subjekte der Forschung begreifen lernen; sie werden vielfach dort zu Objekten der sozialwissenschaftlichen Forschung gemacht, wo üb- er sie befunden wird, ohne dass sie zu dem Ansatz des Denkens, der da an ihren Tätigkeitsbereich herangebracht wird, etwas zu entscheiden hätten.

Sie werden in solchen Fällen "befragt", und man verspricht, ihnen die Ergebnisse mitzuteilen; und das klingt ohnehin schon wie eine verhaltene Drohung.

(Ein Wissenschafter und Forscher der Hochtechnik spricht mit einem Verkehrsexperten und Verkehrsplaner viel eher auf der Ebene der Gleichberechtigung - jedenfalls in der Form der gegenseitigen Achtung - anders als dies bei Wissenschaftern der sozialwissenschaftlichen Forschung in der Begegnung mit Lehrerinnen und Lehren für gewöhnlich der Fall ist.)

Seminare, in denen Literatur zur Begabungsforschung mit intensiver Diskussion einhergeht, bringen zum Vorschein, dass sozialwissenschaftliche Forschungskonzepte in ihrer Komplexität zunächst nicht recht verstanden werden wollen.

Da ist dann von "Praxisferne" die Rede, von zu großem Aufwand für Fragen, die man in der Praxis einfacher und schneller - "unkomplizierter" - lösen müsse.

Studierende sind überwiegend mit einem statischen Verständnis von "Wissenschaft" aus der Schule entlassen worden.

Sie haben ein Bild von Wissenschaft als einer Sammlung von Wissen, aus der man sich etwas holen kann; es ist wie die Vorstellung von einem Steinbruch, von dem man sich Brocken nimmt, andernfalls die Aura eines Schatzhauses, das man kaum zu betreten wagt.

Beides befähigt nicht dazu, Wissenschaft in ihrem dynamischen Charakter zu begreifen - als ein Instrument zur Veränderung.

Universitäre Lehrerbildung in der meist in der Dominanz der fachwissenschaftlichen Ausbildung existierenden Kultur rezeptiver Wissensaneignung macht nicht dazu geneigt, diese Einstellung aufzuheben, und das Internet ist nicht dazu geeignet, diese Auffassung zu verändern.

Ein mitgeliefertes Verständnis von "Theorie", das eher einem Glaubensbekenntnis gleicht denn einer Fragehaltung, einer Frage an die Wirklichkeit, die aus einem als vorläufig betrachteten Wissen entspringt, lässt die Grundmaxime der Aufgabe von Wissenschaft im Ansatz der Falsifikation zunächst wie eine allgemeine Verunsicherung erscheinen.

Dort - in einer Herausforderung durch Verunsicherung -liegt dann allerdings auch der Punkt, an dem hochbegabte Studierende und Lehrer ein Erlebnis haben, das sie in der Beschreibung wie eine Befreiung, wie die Öffnung eines Tores zum Blick auf weite Horizonte und zum Erwandern einer anregenden Landschaft bezeichnen.

Die optimistische Sprache des Philosophen Sir Karl Popper bietet dazu den Denkansatz:

"Versuche immer wieder, die Theorien, an die du glaubst, zu formulieren und zu kritisieren. Und versuche, Alternativtheorien aufzustellen - selbst zu den Theorien, die als völlig zwingend erscheinen; nur so wirst du die Theorie verstehen, an die du glaubst.

Betrachte deine Experimente (und Erfahrungen) immer als Prüfungen einer Theorie - als Versuche, Fehler in ihr zu finden.

Diese Methode, etwas über die Welt in Erfahrung zu bringen, könnte man evokativ statt instruktiv nennen. Wir lernen etwas über unsere Umwelt nicht dadurch, dass wir uns von ihr instrumentieren lassen, sondern indem wir von ihr herausgefordert werden."

(Objektive Erkenntnis, 1984, S. 278 - 279) Wissenschaft lernen heißt eher nicht "Wissen speichern", sondern wissenschaftliches Suchen und Forschen nachvollziehen.

(Ich lasse das Münchner Hochbegabungsmodell "nachvollziehen")

(2) Organisationskompetenz in der Begegnung mit "Schule" und mit außerschulischer Bildung

Lehrer sollen das Schulsystem ihres Landes in seinem historischen Gewordensein verstehen lernen und es für veränderbar halten.

Sie sollen die vorfindbare "Schule" in ihrer gegenwärtigen Situation nicht für naturgegeben und gottgewollt erachten.

Sie sollen ihre Berufsidentität als Bildungsexperten der Organisationsentwicklung definieren und nicht auf die Rolle des "Unterrichters" einschränken lassen.

Dass diese Beschränkung, die in vielen Fällen Selbsterniedrigung ist, nicht nur geistige Unfruchtbarkeit erzeugt, sondern krank macht, weil sie kränkend ist, erkennt man am deutlichsten daran, dass Schulkritik ungeheuer schnell als Personen- und Lehrerkritikaufgefasst wird, obwohl sie oft absolut als Organisationskritik erkannt werden könnte, als Kritik, mit der sich Lehrer sogar identifizieren müssten, weil sie unter manchen gegeben Strukturen selbst nicht zu dem kommen, was sie als erstrebenswert erkannt haben und in ihrem Beruf verwirklichen wollen.

Eine Förderung des Selbstwertgefühls der Personen "des lehrenden Standes" und das Bewusstsein ihres Leistungs-Selbstkonzeptes ist wäre sinnvoll; manche Krankheit unserer Bildungszustände entsteht aus einer ungenügenden Identifikation mit dem möglichen anspruchsvollen Selbstbild des Berufes.

Das "Lernen", der Erwerb von Organisationskompetenz ist für die Begabtenförderung absolut unverzichtbar; es erfolgt in Theorie und Praxis durch das Erkunden von Modellen.

Das bewusste "Erkunden" von Modellen fördert das Fragen nach Motiv und Effektivität zutage, es lässt die Vielfalt pädagogischer Erfindungen an die Stelle vorheriger Einfalt übernommenen Strukturdenkens treten.

In Analogie zu einem Wort von Jean Jacques Rousseau wäre zu sagen: "Ein Lehrer, der nur seine Schule kennt, kennt 'Schule' nicht."

Und nicht nur im Belang der Organisationserfahrung der anderen Art, sondern z.B. auch in dem, was die Erkundung von Schulklima-Konstituanten betrifft, wäre in der forschenden Teilnahme eines Lehrers am Schulleben einer anderen Schule eine höchst anregende und "bewegende" Form der Lehrerfortbildung zu sehen.

(3) Erfahrung der eigenen Person in kontrollierter Selbstreflexion (z. B. durch Aktionsforschung) und Befähigung zu dem, was bei Howard Gardner als "intrapersonale Intelligenz" angesprochen ist

Lehrer sollen ihre Verhaltensweisen und die Einschätzung ihrer Wirkung auf andere Personen selbst reflektieren lernen; sie sollen lernen, sich mit ihren Motiven und Gewohnheiten, mit ihren Einstellungen und mit ihren Fähigkeiten und mit denen ihrer Kolleginnen und Kollegen auseinanderzusetzen.

Die Methode der "Aktionsforschung" (Altrichter & Posch 1998)) bietet dazu einen anerkannten (aber durchaus eigenständig modifizierbaren) Weg.

Während man bei der Nennung solchen Ansinnens rasch geneigt ist, an Supervision o.ä. zu denken (was auch berechtigt ist), wird im Konzept der Aktionsforschung davon ausgegangen, die eigene berufliche Situation und die anderer Lehrer zum Gegenstand der Forschung machen zu lassen.:

"Aktionsforschung ist", nach Eliott "die systematische Beobachtung beruflicher Situationen, die von Lehrerinnen und Lehrern selbst durchgeführt wird, in der Absicht, diese zu verbessern." (Anstelle der normativen Versprechenszusage wäre wohl eine mehr differenzierend beschreibende Formulierung angebracht, nach der dann die Rede sein sollte von der "Absicht, sich berufliche Situationen mehr bewusst zu machen und sie kommunizieren zu können." (Altrichter & Posch 1998)

Die Aufzeichnungen eines Tagebuches über "meine" gelungenen und/oder misslungenen Vorhaben, über Sicherheit und Versagen, über Freude und Ärger führen - selbst bei Durchführung in "Erprobungssituationen" - zum Ernstfall des Aufspürens subjektiver Theorien und zum Befragen auf ihre Begründbarkeit.

Kollegiale Hospitationen und Befragungen - als Interview oder in schriftlicher Form - über Aktion und Reaktion in bestimmten beruflichen Situationen (im Unterricht, in Verhalten zu Eltern, zu Vorgesetzten ...) eröffnen Ausgangspunkte zur Überwindung der im Lehrberuf stets latenten Gefahr der Verliebtheit in Idiosynkrasien.

(Ich führe eine Gruppendiskussion "meiner" Unterrichtsstunde mit Video- Feedback.)

(4) Selbst-Erfahrung im Unterrichtsmanagement in Kooperation mit anderen Personen und Institutionen

Lehrer sollen lernen, die Intention der "gemeinsamen Bildungswirkung aller Unterrichtsfächer" in der Lernorganisation und in der Kooperation des Lehrerkollegiums sichtbar werden zu lassen.

Sie sollen "Lernfelder" (als themenorientierte Bildungsinhalte) im Team planen und in einem entsprechenden Unterricht organisieren und durchführen können und einen "Atelierbetrieb" (als freies und konkurrierendes Lehrangebot jedes Mitglieds des Lehrerkollegiums) in gemeinsamer Unternehmung der Schule zu erproben wagen.

Internationale Vergleichsstudien wie z.B. die "Third International Mathematics and Science Study -TIMSS" konnten nachweisen, dass Wissen vorhanden ist, dass aber ein hoher Anteil von Schülern zu dokumentieren war, die angesichts von vernetzten Problemlösungsanforderungen versagten.

Lehrer sollen die Unterrichtsführung in der Konzeption des "Offenen Lernens" bewusst als Instrument der besseren Möglichkeit zur Identifikation von Begabten in Erfahrung bringen.

(Über die Methode des Offenen Unterrichts wird im folgenden Kapitel im Zusammenhang mit dem an der Universität Wien geplanten Forschungsprojekt Näheres ausgeführt werden.

(5) Erwerb von bildungspolitischer Profilierung durch die Erstellung und öffentliche Präsentation von Arbeiten zu Bildungsfragen auf wissenschaftlicher Grundlage

Lehrer sollen die Entwicklung sozialwissenschaftlicher Forschung mitvollziehen und im Besonderen die Erkenntnisse der Begabungsforschung als integrierten Bestandteil ihrer Berufsidentität sehen lernen.

Eine Weiterleitung, von einem Literaturstudium ausgehend, zu einem berufsorientierten Anwendungsbereich ist dazu erforderlich.

Lehrer sollen lernen, eigene wissenschaftliche Arbeiten öffentlich vorzutragen und ihren Denkansatz und ihre Forschungsmethode in Rede und Antwort mit Argumenten zu vertreten.

Ein umfassendes rhetorisches Training im Zusammenhang mit dem Erwerb anschaulicher Darstellungsgeschicklichkeit ist gefordert.

Werdende Lehrer sind mit Situationen des Wettbewerbs zu befassen - nicht bloß im Hinblick auf andere, sondern in direkter Betroffenheit.

Die Vermeidung von Über-Empfindlichkeit und die Entwicklung einer gewissen Resistenz gegenüber Kritik - mehr noch: die Befähigung, dieser Kritik mit Argumenten begegnen zu können - ist notwendig.

4. Das Forschungsprojekt "Förderung dynamischer Fähigkeiten durch Offenes Lernen und College Preparatory Mathematics - CPM" an der Universität Wien

Unter diesem Titel ist an der Universität Wien ein Forschungsvorhaben - mit Beginn 2002 -geplant, das davon ausgeht, die Identifikation von hochbegabten Schülern durch Lehrer in der Anwendung bestimmter Konzepte der Unterrichtsführung verbessern zu können.

Es geht dabei um die Methode des "Offenen Lernens" und um das Programm "CPM - College Preparatory Mathematics"; beide Konzepte intendieren die Entdeckung von Problemlösungsfähigkeit und die Erfahrung eigenverantworteten Lernens beim Schüler.

Die Hypothese, auf die es im Zusammenhang der hier beabsichtigten Forschung vor allem ankommt, besteht in Erwartung, dass Lehrer durch die Veranlassung zur Beobachtung des Lernverhaltens und bestimmter Faktoren der Aneignungsfähigkeit eine höhere Kompetenz in der Identifikation von Begabten erreichen können.

Lehrer sollen nicht Tests durchführen; sie sollen aber ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie auch in dieser Angelegenheit - der Identifikation von Begabungen und von Begabten - nicht aus dem Selbstverständnis von entscheidenden Personen entlassen werden können, dass sie Partner der wissenschaftlichen Erhebung sein müssen.

Die Untersuchung des Marburger Hochbegabtenprojekts, die hier mit Bezug auf den Artikel "Wer nichts leistet, ist nicht begabt? Zur Identifikation hochbegabter Underachiever durch Lehrkräfte" (Rost & Hanses 1997) zitiert wird, geht im Ansatz von einem Rollenverständnis aus, indem "untersucht wird, ob Lehrkräfte Hochbegabte unabhängig von deren Schulleistung identifizieren können", wobei "der Vergleich der Intelligenztestwerte mit dem Urteil der Lehrkräfte" als Grundmuster/Paradigma der Rechtfertigung gilt und jener für diese als Normbezug erachtet wird.

Es wird dabei auf andere Studien zurückgegriffen, die ohnehin bereits eine "extreme Diskrepanz zwischen Begabung und Leistung" feststellen lassen haben; bekannte Unternehmungen zur Abhilfe - z.B. ein spezifisches Screeningverfahren betreffs Underachievement oder ein spezielles Identifikationstraining für Lehrer, von dem Gear berichtet - werden verworfen, da offensichtlich keine höhere Effektivität im Erkennen von Underachievern zu verzeichnen gewesen war.

Die Schlussfolgerung aus der Untersuchung lautet denn auch allgemein unbefriedigend: "Die Erfahrungen, die im Rahmen des Marburger Hochbegabtenprojekts mit Lehrernomination begabungsrelevanter Verhaltensmerkmale gewonnen wurden, stimmen eher skeptisch." (S. 175 mit Bezug auf Wild 1991, S. 118 - 126).

Diese Studie und die genannten resümierten Ergebnisse stellen somit eine Herausforderung und einen Impuls für eine andere Logik der Identifikationsanforderungen dar.

Die Frage ist: Wie lassen sich Verhaltensweisen für das Erkennen der "hinter" oder jenseits von Schulleistungen liegenden Potentiale, die ja nach zitierter Ansicht in Testkriterien gesichert enthalten sein sollen, i m Unterricht beobachten? - genauer gesagt: in einem Unterricht, der von der Methode und von der Sozialform her so angelegt ist, dass ein solches Beobachten m ö g l i c h wird? Offenes Lernen und CPM stellen solche Methoden der Unterrichtsführung dar; sie verschaffen dem Lehrer die Grundvoraussetzung: Verhaltensweisen beim Lernen beobachten zu können, das Lernverhalten des Kindes und Jugendlichen im Einzelnen und oft mit überraschenden Effekten zu sehen und die nach Sternberg so entscheidende Qualität der Aneignungsfähigkeit (die auch Guthke im Lerntestverfahren nennt) zu erkennen.

Wiewohl es, wie Hany anmerkt, noch kein ausgefeiltes Beobachtungssystem gibt (Hany 1995), sind Checklisten von Merkmalen begabter Kinder hilfreich. Hany betont, dass "in jedem Fall die langfristige und systematische Beobachtung" jedes einzelnen Kindes wichtig ist.

Die pädagogisch gedachte Definition von Heinrich Roth, nach der ein Begriff von "Begabung" besser in einer Prozessbedeutung denn anders zu interpretieren sei hat auch ein Verständnis des Begabens durch die Aufmerksamkeit im Vorgehen der Beobachtungen grundgelegt.

5. Was ist "Offenes Lernen", was ist "CPM" und worauf gründen sich die Annahmen des Forschungsvorhabens?

"Offenes Lernen" oder "Offener Unterricht" ist eine Form der Unterrichtsführung, bei der die Schüler nach einem vorgegebenen Arbeitsplan mit Aufgabenstellungen und Zielangaben unter Verwendung der dazu vorbereiteten Materialien und Versuchsanordnungen eigenverantwortlich/selbstverantwortlich arbeiten,

  • wobei - nach Vorgabe des Programms - Pflicht- und Wahlbereiche vorgesehen sind, Sozialformen dazu als Einzel- , Partner- oder Team- und Gruppenarbeit gekennzeichnet erscheinen und die Überprüfung der Aufgabenerfüllung durch Lehrerkontrolle oder auch durch Selbstkontrolle (anhand einer Lösungsrückmeldung aus den Lernmaterialien selbst) erfolgt und
  • die Organisation des Lernvorganges und der Zeitplanung wesentlich dem Schüler überantwortet wird.

Mit der Propagierung und Befürwortung dieser Form der Unterrichtsführung sind Erwartungen bezüglich der Entdeckung und Selbst-Entdeckung von Fähigkeiten und auch der Vermittlung von Qualifikationen verbunden, die folgendermaßen beschrieben werden:

Der Schüler ist dazu verhalten,

  • sich aufgrund der Programmvorgabe einen Überblick über die innerhalb einer bestimmten Zeit zu erledigenden Aufgaben und über die dazu vorhandenen Lernmaterialien zu verschaffen,
  • Entscheidungen betreffs der Auswahl der Aufgaben nach Pflicht- und Wahlbereichen zu treffen, die Zeit zur Bewältigung der Aufgaben mit zu kalkulieren und dabei Einzel- , Partner- und Gruppenaktivität zu beachten,
  • bei auftretenden Schwierigkeiten nicht sofort den Lehrer zu befragen, sondern zunächst die Anleitungen nochmals zu studieren und einen Lösungsweg in Kooperation mit anderen Schülern bzw. in der Gruppe zu suchen.

Begabungsförderung besteht u.a. auch darin, die Möglichkeit zu haben, unbemerkt (!!) Fehler machen zu dürfen und daraus lernen zu können.

Wir alle lernen ungemein viel aus Fehlern (über die nur wir selbst Bescheid wissen); und wie würde es uns selbst gehen, wenn bei unserem Tun und Lassen in Lernsituationen ständig jemand da wäre, der dieses und jenes korrigierend monierte?

Diese Anforderungen, zu deren Entsprechung beim Schüler ein Lernprozess in der fortschreitenden Befassung mit Offenem Lernen anzunehmen ist, sollen

  • einerseits den Schüler Erfahrungen betreffs Selbstorganisation, Entscheidungsfähigkeit und Handhabung von Zeitmanagement, Teamfähigkeit, selbstverantwortete Verpflichtung und Selbstverantwortung für das Lernen und den Lernfortschritt erwerben lassen,
  • andererseits den Lehrer die individuell unterschiedlichen Voraussetzungen und die Aneignungsfähigkeit dazu erkennen lassen.

Der Lehrer ist dazu veranlasst, sich die Planung der Anforderungen in der Unterrichtseinheit nach didaktischen Kriterien bewusst zu machen und seine Aufgabe in der Beobachtung des Verhaltens der Schüler hinsichtlich der vorhin genannten Qualifikationen zu sehen und damit Kenntnis von dem zu gewinnen, was ihm als Grundvoraussetzung für die Identifikation von Begabungen zusätzlich und zugleich in deutlicher Abhebung von schulischer Leistung dienen kann, nämlich die Art der Lernbereitschaft und Planungskompetenz, des Aufgabenengagements, der Ausdauer und Konzentration bei Lösungsanforderungen, der Problemlösungsfähigkeit, der Stressbewältigung hinsichtlich der Zeitkalkulation und der Befähigung zum Erkennen der Selbstverantwortung für das Lernen.

In der Beobachtung des messbaren Lernverhaltens und der Kontrolle der Leistung nach Pflicht- und Wahlbereichen wird eher nicht das Lerntempo, sondern die Fähigkeit zur Selbst-Organisation erkennbar.

Offenes Lernen wird an etwa dreißig Schulstandorten seit mehr als einem Jahrzehnt in allen Gegenstandsbereichen und an allen Schularten durchgeführt.

Dazu besteht an dem Pädagogischen Institut der Stadt Wien eine Einrichtung für Schulungskurse und für Beratung und Lernmaterialerstellung.

Die Leiterin dieser Einrichtung, die diese Art der Unterrichtsführung an die höheren Schulen gebracht hat, ist Professorin für die Unterrichtsgegenstände Mathematik und Physik.

Offenes Lernen ist keine Dauereinrichtung an Schulen, es wird zunächst bloß als Anlass zur Ermittlung anderer Lernerfahrungen gesehen.

Eine sehr ähnliche und bezüglich der Selbst-Entdeckung bzw. der Beobachtung von Fähigkeiten durch den Lehrer fast gleiche Konzeption liegt bei "CPM - College Preparatory Mathematics" vor.

Das Programm ist an der University of California (unter der Leitung von Tom Sallee) in Kooperationmit Lehrern an Schulen in Kalifornien für den Mathematikunterricht entwickelt, in Versuchsphasen erprobt und danach modifiziert worden.

Die Aufnahme der Methode "CPM" erfolgte im Rahmen des Studienaufenthaltes von Dr. Eva Sattlberger in Kalifornien. Sie hat im Rahmen ihrer Dissertation Vergleichsanalysen zwischen Offenem Lernen und CPM durchgeführt.

CPM ist - wie der Name anzeigt - eine Methode im Unterricht für Mathematik. Es geht dabei aber nicht einfach um den Aspekt, den man mit "Verbesserung oder Effektuierung des Mathematikunterrichts" umschreiben könnte.

Das Konzept ist in den Aufgabenstellungen daraufhin angelegt, neben fachlichen Aspekten die kreativen Fähigkeiten und die Entsprechung zu den Anforderungen des "task commitment" erkennen zu lassen:

Es stellt die Schüler vor komplexe Problemlösungsanforderungen und gibt Anleitungen, um mathematische Gesetzlichkeiten selbst finden ("erfinden") zu lassen; und ebenso wie beim Offenen Lernen ist Zeitplanung und Teamarbeit im Sinne eigenverantwortetem Lernen dem Schüler aufgetragen. Und das geschieht in einer sehr gut überlegten Einführung vor dem Mathematik-Programm und vor den einzelnen "units".

CPM liegt dem Schüler in Buchform vor, er befasst sich mit den Aufgabenstellungen anhand des Buches gemeinsam mit anderen in Partner- oder Gruppenarbeit.

Unterschiede zwischen Offenem Lernen und CPM (wenn man nun beide Konzepte für den Mathematikunterricht anwendet) bestehen somit bezüglich der Erwartung und Annahme des Sichtbarwerdens der vorhin genannten Qualitäten und Beobachtungsmöglichkeiten, die der Identifikation von Begabungen in Ergänzung zu den schulischen Leistungen dienen sollen, nicht.

Differenzierungen können in der Anwendung darin zum Tragen kommen, dass Offenes Lernen mehr in der Orientierung zu ganzheitlichem Lernen besteht, dass es von der Anlage her problemloser fächerübgreifend gestaltet werden kann und - für bestimmte Unternehmungen, losgelöst von jeder üblichen Fach- oder Gegenstandszuteilung - dazu geeignet ist, kreative Unternehmungen anzuregen. (Eine Unterrichtseinheit mit dem Thema "Meereswellen" war dazu an einer Schule ein Beispiel und ein Erlebnis !)

CPM bietet im Vergleich zum Offenen Lernen mit der Anleitung zu entdeckendem Lernen den Vorteil höherer Stringenz.

Beispielsweise ist die Anleitung zum Erstellen von Gleichungen oder zum "Auffinden" des Pythagoräischen Lehrsatzes im Vollzug der nach dem Buch gegeben Schritte in gewissem Maße zwingend; wenn das als Vorteil gesehen werden darf, dann ist auf die möglichen "Verirrungen" der Weitläufigkeit im Offenen Lernen hinzuweisen.

6. Die Suche nach einer "begabungsfreundlichen Lernkultur" erhält ihren Sinn im Bestreben zur Evolution des humanen Geistes der Menschheit

Methoden, die den Lehrenden dazu veranlassen, sich mit dem Kind und Jugendlichen in der Absicht zu befassen, die besten Fähigkeiten der ihm anvertrauten lernenden Person zu entdecken und entdecken zu lassen, sind dem humanen Bildungsziel näher als Methoden, die mit technischem Anweisungs-Perfektionsmodus "von außen" herangebracht werden.

Offenes Lernen und CPM sind dem Charakter der erstgenannten Zielorientierungen näher. Sie entsprechen dem, was einer anerkannten Methode der Förderung von Begabung und Kreativität - der Montessori-Methode - weite Verbreitung gebracht hat; und das Wort "attendere osservando" (beobachtend erwartend dabeisein) von Maria Montessori mag dafür bezeichnend sein.

In seinem Buch "Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild" hat Fritjof Capra den bemerkenswerten Satz geprägt: "Die Evolution des Bewusstseins hat uns die Cheopspyramide, die Brandenburgischen Konzerte (J.S. Bachs), die Erklärung der Menschenrechte und die Relativitätstheorie gebracht - aber auch die Hexenverbrennungen, den Holocaust und die Bombe von Hiroshima ......"

Der Sinn von Begabtenförderung besteht in der Entwicklung einer humanen Gesellschaft, einer humanen Weltkultur.

Ein solches Wort ist gewiss für manche schwer verdaubar.

Zu sehr sind nach wie vor alte Paradigmen (Denkmuster) verbreitet, ein unversöhnliches, das höchste Fähigkeiten und Leistungen nur in Verbindung mit Konkurrenz sieht, und ein naives, aber kaum minder schädigendes, das Begabte als die von Vornherein glücklichen und begünstigten Menschen sieht, die ohnehin in der Lage sind, sich selbst durchsetzen zu können, die man daher mehrheitlich "einbremsen" müsse.

Beide Paradigmata tendieren - bewusst und/oder unbewusst, was gleichwohl nicht zu entschuldigen ist - dazu, begabte Kinder und Jugendliche auszugrenzen und sie in die Isolation zu bringen.

Längst hätte allerdings das Studium der Menschheit - sofern es auch als ein Studium der Schicksale von Menschen betrieben wird - darauf aufmerksam machen können, dass gerade für die Begabten das Bedürfnis nach Beziehung und Angenommensein, d.h. nach sozialer Anerkennung, grundlegend ist.

Begabtheit/Hochbegabtheit ist als eine Form der Existenz "des menschlichen Seins" zu werten (daher im Rahmen einer Pädagogischen Anthropologie existentiell zu erforschen) und im Bewusstsein einer demokratischen Kultur zu entfalten.

Friedrich Oswald, Univ. Prof. für Erziehungswissenschaften, Wien

 


 

Literatur

  • Angerer, Karin (1999): Kritische Bemerkungen zum offenen Unterricht. Diplomarbeit am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Wien.
  • Altrichter, Herbert & Posch, Peter (1998/4): Lehrer erforschen ihren Unterricht. Eine Einführung in die Methoden der Aktionsforschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Dörner, Dietrich (1993): Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek: Rowohlt.
  • Eder, Ferdinand (1995): Das Befinden von Kindern und Jugendlichen in der Schule. Innsbruck: StudienVerlag.
  • Gardner, Howard (1993): Creating Minds. An anatomy of creativity seen through the lives of Freud, Einstein, Picasso, Stravinsky, Eliot, Graham and Gandhi. New York: Basic Books.
  • Gardner, Howard (1996): So genial wie Einstein. Schlüssel zum kreativen Denken. .Stuttgart: Klett-Cotta.
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